Wandern ist die schönste Gelegenheit, Zeit zu verbringen, und alles andere dem Zufall zu überlassen. Alle Welt spricht davon, Geld zu verschwenden, doch Geld ist nichts dagegen Zeit zu haben. Weit mehr Befriedigung liegt darin, Zeit zu verschwenden. Auch wenn es unglaublich klingt, jedermanns Alltag bietet dazu Gelegenheiten.
Gestern Nachmittag hat es das letzte Mal geregnet. Doch es ist noch nicht vorbei. Nach einer trockenen Wanderung komme ich nachmittags im strömenden Regen zurück in meine Wanderhütte. Eine freundliche Dame im Haus des Gastes in Bad Schandau drückte mir vor ein paar Tagen beim Abschied noch schnell einen Flyer des Nationalparks Sächsische Schweiz in die Hand: Wandern im Wald, und wie sie mir verschwörerisch zuflüsterte, auf eigene Gefahr. Beim Frühstück heute Morgen warf ich einen Blick in den Flyer, und sah, dass ich in der Region des Nationalparks Sächsische Schweiz gelandet war, die der Flyer als gefährlich bezeichnet. Spontan suchen mich Fantasien von über mir brechenden Ästen und blockierten Wegen heim, die nur über rutschige Hänge zu umgehen sind. Außerdem fällt mir rechtzeitig ein, brannte doch vor kurzen der Wald jenseits der Grenze, in der Böhmischen Schweiz. Wie gut, dass es in den letzten Tagen ausgiebig geregnet hat, denke ich, und muss im nächsten Augenblick über meine kleinlichen Sorgen lächeln. Ich habe auf meinen Wanderungen in den letzten Tagen um Ostrau und Schmilka reichlich tote Fichten, durch gestürzte Stämme blockierte Wege und Totholz gesehen, und kann nun nicht mehr verstehen, was im Wald um Hinterhermsdorf anders sein soll. Der Klimawandel heißt es, mit drei Jahren Trockenheit und Hitze, hat die Waldumwandlung beschleunigt. Ein großer Teil Fichten sind durch den Borkenkäferbefall abgestorben. Jederzeit können Äste, Kronenteile und ganze Stämme abbrechen und den Wanderer lebensgefährlich verletzten. Ein gut gemeinter Rat der Behörde, die eher an die versicherungsrechtlichen Konsequenzen denkt als an das Wohl des Wanderers. Vor zwei Jahren auf dem Albsteig war ich mit dem gleichen Problem konfrontiert. Abgesperrte Wege mit bedrohlichen Warnungen, zusammen mit fehlenden alternativen Routen, führten mich mehr als einmal in die Irre. Wie überall im Leben ist man auch auf Wanderungen gefährdet, im Wald durch die unberechenbare Natur, in der Stadt durch den Autoverkehr. Es gibt nun einmal keine Sicherheit, und selbst wer zu Hause bleibt, ist vor Unfällen nicht sicher, kann er doch beim Wechseln des Leuchtmittels von der Leiter fallen. Doch längst nicht jeder Unfall hat tödliche Folgen. Was aber wichtiger ist: In Hinterhermsdorf nachgefragt, weiß niemand von dem Flyer. Hier sieht man die ganze Angelegenheit gelassen.
Für Wanderer bietet die Buchenparkhalle oberhalb von Hinterhermsdorf einen geeigneten Ausgangspunkt zu schönen und interessanten Landschaften ins Tal der Kirnitzsch, kurz vor der tschechischen Grenze, wo die Sächsische in die Böhmische Schweiz übergeht. Die Buchenparkhalle ist keine Halle in einem Park unter alten Buchen, sondern eine seelenlose, moderne Gaststätte mit windiger Terrasse und mäßiger Aussicht. Den Namenzusatz Park trägt die Halle wahrscheinlich, weil sie mitten in einem Ensemble großer Parkplätze liegt, die auch Reisebusse aufnehmen können. Deshalb senke ich mir, der eigenartige Name. Sofort stelle ich mir große Busse vor, die massenweise Besucher in den friedlichen Wald entlassen. Im Sommer vielleicht, bei wechselhaftem und kühlem, regnerischem Wetter sicher nicht.
Vor der Buchenparkhalle kreuzen zwei Wanderwege, breite Forstwege, mit mehreren schmalen Pfaden, die den Besucher in das waldkundliche Freigelände der Waldhusche entlassen. Es ist wenig los, ein paar Kinder toben über die Kreuzung, genießen den Freiraum, während sich die Eltern an ihrem Auto zu schaffen machen.
Über den Hohweg, einen breiten, bequem zu wandernden Forstweg, kommt mir lautstark eine Gruppe Wanderer entgegen. Zurück von einer frühen Kahnfahrt auf der Kirnitzsch verteilen sie sich auf dem Parkplatz zu ihren Autos. Sie bemerken mich nicht, und eilen schwatzend an mir vorüber. Auch mein Gruß hilft da nicht viel. Dafür habe ich den Hohweg nun für mich allein, der anfangs nicht viel erwarten lässt. Eine Schrebergartenkolonie, in deren Lauben ich komfortabel wohnen könnte, auf der einen Seite, ein lichter Laubwald, viele der Bäume sind Buchen, wie der Name der Halle vermuten lässt, dazwischen vereinzelt Eichen und Bergahorn. Keine Fichten, und das bedeutet in der Hinteren Sächsischen Schweiz keine abgestorbenen Stämme, kaum Totholz am Boden und ein vom Borkenkäfer noch nicht eroberter Wald. Leichten Schritts wandere ich gemächlich über den Schotter des Wegs und genieße den frühen Sonnenschein auf der Haut. Vorfreude auf eine neue Wanderung mischt sich mit dem erregenden Gefühl, neugierig auf die Kirnitzschklamm zu sein, zu der ich seit drei Tagen wandern will, woran mich der Regen gehindert hat. Endlich ist es so weit, nur noch wenige Kilometer bis in den Einschnitt der Klamm zwischen die hohen Felswände zur Oberen Schleuse. Es wird meine zweite Kahnfahrt durch einen Durchbruch in diesem Jahr.
Für den Abstieg in die Klamm verlasse ich den Hohweg bald wieder, denn es gibt eine romantische Variante, die der Forstweg nicht bietet: der Weg entlang einer kleinen Felsengrotte, der Dachsenhöhle. Ich liebe diese sprechenden Namen, die den Landschaften der Sächsischen Schweiz einen besonderen Zauber verleihen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Landschaft so dicht mit diesen Namen bestückt ist. In den letzten Tagen gefiel mir der Gedanke, die Landmarken sprechen zu mir, ich wandere durch Anekdoten und Erzählungen, die ich nicht verstehe, weil es niemand gibt, der für mich übersetzt, der weiß diese Namen zu entschlüsseln. Ich frage mich, ob es schon jemand versucht hat. Ob schon jemand bemerkt hat, welcher narrative Schatz hier schlummert. Anders als der Hohweg ist der Pfad entlang der Dachsenhöhle schmaler und mit Steinen und Wurzeln übersät. Sanft abwärts vorbei an zerklüfteten Felswänden und zwischen großen Findlingen, die immer wieder den Weg einengen, wandere ich sprichwörtlich über Stock und Stein. Ginge es nach mir, ich würde nur noch diese Pfade wandern, ohne mich jemals zu langweilen. Ihre Variation ist einfach zu vielfältig. Schmale Pfade, die nicht immer gleich zu sehen sind, sich im Wald verstecken oder plötzlich im Unterholz verschwinden, um etwas weiter wieder aufzutauchen, die unkompliziert durch Berg und Tal kommen, Gewässer kreuzen, über die jemand Baumstämme gelegt oder Trittsteine angeordnet hat, die sich ungeplant durchs Gelände schlängeln und viel eher Unerwartetes präsentieren, als die ausgetretenen Wege, die zu breit sind, zu angelegt, um auf ihnen die Natur wirklich zu spüren. Diese Pfade machen nicht den Eindruck, planvoll angelegt zu sein, waren es ursprünglich vielleicht nicht. Manchmal denke ich, jemand hat ein wenig nachgeholfen, und hat das eine oder andere Detail zurechtgerückt. Anders als die Forstwege atmen diese Pfade etwas Lebendiges aus. Ich stelle mir gerne vor, ich bin auf Wegen unterwegs, alt und immer wieder begangen, von Jägern. Schmugglern, Räubern und Soldaten, zuletzt von Wanderern wie mir, die zum Vergnügen und wegen der Schönheit der Landschaft unterwegs sind. Für mich besteht ein qualitativer der Unterschied zwischen einem Weg und einem Pfad, zwischen gemütlichem Wandern, eher einen Waldspaziergang, und den Herausforderungen auf diesen Wald- und Bergpfaden, die nicht so leicht begehbar sind, dafür aber pittoresk und abwechslungsreich.
Viel zu schnell mündet mein Traumpfad in den breiten Wettinweg, einen anderen Forstweg, um den ich nicht herumkomme. Am Wettinplatz verbindet eine Kreuzung drei Forstwege, Hollweg, Hohweg und Wettinweg, der am Eingang in die Kirnitzschklamm endet. Ich muss den Wettinweg nur ein kurzes Stück benutzen, bis an das gepflasterte Gefälle hinab zur Kirnitzsch, wo die Kähne warten, um Touristen durch die Klamm zu bringen, durch die sich die Kirnitzsch schlängelt. Eine Sightseeingtour zum Preis von acht Euro mit einem Steuermann als Guide im Heck, der erzählt, rudert oder stakt. Am gemauerten Kai die Rindenhütte, ein Kiosk nit Ausschank, ein Unterstand an der Felswand mit ein paar Bierbänken, auf denen Touristen bei Kaffee oder Soljanka sitzen und auf den nächsten Kahn warten.
In vielen Jahrhunderten hat sich die vierzig Kilometer lange Kirnitzsch, so sagt man, das schönste Flusstal der Sächsisch-Böhmischen Schweiz, durch den weichen Sandstein gefräst. Eine Klamm ist entstanden, ein ins Felsgestein eingeschnittenes, schmales Tal, dessen zerklüftete Felswände haushoch aufragen. Mitten in der Kernzone des Nationalparks Sächsische Schweiz. Die Quelle der Kirnitzsch liegt in Tschechien, östlich von Krásná Lípa. Nur elf Kilometer später bildet sie eine grüne deutsch-tschechische Grenze zwischen sächsischer und böhmischer Schweiz. Eine Kahnfahrt durch die Kirnitzschklamm ist gleichzeitig eine Fahrt entlang einer Grenze, wovon Europa immer noch zu viele hat. Grenzen trennen nicht nur Völker, die kulturell zusammengehören, sie zerschneiden auch Landschaften. Landschaft, Sprache und Kultur sind eine Einheit, und da sie die ethnische Identität prägen, wozu brauchen wir dann noch eine nationale Ideologie? Aus der Perspektive der Landschaft und des Lebensraums der Bewohner, erklärt uns Cees Nooteboom in einem seiner Reiseessays, entsteht nicht nur das Land, sondern auch ein bestimmter Menschenschlag, ein Volk, das sein Land weder gefunden noch erhalten, sondern selbst geschaffen hat. Ein Land ist nicht nur eine Landschaft, es ist auch seine Geschcíchte. Die innige Verbindung der Landschaft mit den Menschen, die in ihr und von ihr leben, führt zu Differenzen und unterschiedlichen kulturellen Identitäten. Doch wozu brauchen wir Grenzen, wenn auf der Schnittstelle der Landschaften, Grenze oder nicht, die Kulturen ohnehin vermischen? Eine Landschaft soll man fühlen wie einen Körper, schreibt Novalis, und warum sollen verschiedene Landschaften, und die Menschen, die sie bewohnen, nicht wie die Teile eines einzigen Körpers miteinander verbunden sein. Wie viele Schwierigkeiten und Konflikte blieben uns erspart.
In Bad Schandau, dem Tor in die Hintere Sächsische Schweiz, fließt das Wasser der Kirnitzsch in die Elbe. In der kaum einen Kilometer langen Kirnitzschklamm präsentiert sie dem Wanderer jedoch ihre spektakulärste, aber auch meistbesuchte Etappe, die an der Oberen Schleuse endet. Die in der Klamm gestaute Kirnitzsch macht einen imposanten Eindruck, der aber mehr der Klamm, als ihr selbst geschuldet ist. Erst jenseits der Oberen Schleuse wird sie wieder lebendig und zu einem idyllischen Waldfluss. Dennoch ist die ihrem Fluss beraubte Kirnitzsch die bedeutendste Attraktion der Hinteren Sächsischen Schweiz, allerdings nur in touristischer Perspektive.
Heute Morgen war ich noch fasziniert von dem Gedanken, die Kirnitzschklamm im Kahn zu durchqueren, so wie es alle tun. Auf meiner Radwanderung entlang der deutschen Donau brachte mich ein Kahn vor einigen Wochen durch die Weltenburger Enge nach Kehlheim. Die Donau hatte Niedrigwasser, sie war nur noch einen Meter neunzehn tief, eine andere Variante der Klimakrise, nach einem viel zu trockenen Frühling und Sommer. Ich hätte mühelos hindurchwaten können. Der Dampfer, der die Touristen befördert, konnte an diesem trüben Tag nicht ablegen. Doch es gab diese beiden Kähne mit Außenborder, die mit dem Bug auf dem hoch gelegenen Kiesufer anlegen konnten, und uns einluden. Der Durchbruch durch die Kalkstein-Formationen der Fränkischen Alb, deren zerklüftete Felsen an die des Elbsandsteingebirges erinnern, im Kahn, auf Höhe des Wasserspiegels, schon ein besonderes Erlebnis. Doch heute, am Ufer der Kirnitzsch, in einem ähnlichen Kahn, hält mich ein Gefühl zurück. Ein Kahn, an beiden Seiten Sitzbänke, der Steuermann im Heck, der die ganze Zeit erzählt, so habe ich mir meinen Weg durch die Klamm nun doch nicht vorgestellt. Etwas ist anders als noch vor Wochen an der Donau. Nicht direkt Abneigung, mich mit anderen durch die enge Klamm rudern zu lassen, deren Wände kaum zwei Meter entfernt, steil und abweisend aufragen. Es ist die ursprüngliche Wildheit der Landschaft, die, obwohl Illusion, noch spürbar zu sein scheint. Etwas flüstert mir ein, es ist ein Fehler, nicht zu Fuß durch diese Klamm zu wandern, die oberflächlich betrachtet weglos ist. Es ist etwas anderes, sich selbst zu bemühen, sich von der Natur herausfordern zu lassen, als die Landschaft in passiver Betrachtung zu konsumieren. Es ist ein unvergleichlicher Genuss, ihre Schönheit, ihre naturräumlichen Atmosphären Schritt für Schritt voll einzusaugen, sich in Stille auf diese Landschaft einzulassen, ungestört von touristischem Blick und monetär erworbener Leichtigkeit. Ein solches Vergnügen ist nicht kostenlos zu erwerben. Der Preis lässt sich nicht in Euros entrichten. Es erfordert die physische und psychische Energie des Wanderers, und belohnt ihn, nach getaner Arbeit mir euphorischem Rausch. Wer hat einmal gesagt, wo die Masse ist, gibt es nichts mehr zu erleben. Ich weiß es nicht mehr, habe aber oft erfahren, dass es stimmt, und dass viele der schönen Orte weltweit unter dem Ansturm des Massentourismus ihren Charme verloren haben, und mit ihm ihren Genius loci. Es heißt, dass sich allein 2009 nahezu 55.000 Besucher durch die Klamm rudern ließen. Also werde ich nachschauen, was die Elementargeister der Kirnitzschklamm für mich bereithalten. Einige Fragen, ein paar Antworten des Kassierers, und ich bin auf dem Flößersteig, der versteckt hinter der Rindenhütte, oberhalb der Kirnitzsch, durch die Klamm beginnt. Auf einem Weg, den die Flößer einst benutzten, um die Holzernte zur Elbe zu flößen. Nur deshalb ist die Kirnitzsch gestaut und zwischen zwei Schleusen eingeklemmt, für eine wirtschaftliche Nutzung gezähmt. Und nur deshalb gibt es den Flößersteig. Es ist nun einmal so, dass ich allen Wegen, die Steig oder Stiege heißen, nicht widerstehen kann.
Wandern wird zu einer Übung in Gelassenheit angesichts von Wegen, die im Pfadlosen enden oder in schwer zu bewältigende Passagen einmünden, wenn nichts anderes mehr möglich ist, als den Weg fortzusetzen. Wenn umkehren keine Option mehr ist, dann hilft es, das Gegebene, das sich dem Zufall verdankt, gelassen hinzunehmen, um Erfahrungen zu machen, mit denen nicht zu rechnen ist. Die Überzeugung, dass es keinen Weg gibt, der nicht irgendwo hinführt, macht ein Ziel überflüssig. Eine Wanderung ohne ein Ziel, oder wenn das Ziel unerwartet obsolet wird, erlöst den Wanderer von der Notwendigkeit einer im Voraus geplanten Wanderung und befreit Achtsamkeit und Wahrnehmung von beengender Fixierung. Eine Wanderung ohne exakt festgelegtes Ziel gibt dem Spüren Raum und verweist den Verstand in seine Schranken. Eins der wenigen Dinge, die für einen Wanderer manchmal nützlich sind, sind Kompass und Wanderkarte, auf der er sich seinen Weg zurechtpuzzelt.
Der Flößersteig ist einer dieser schmalen Pfade, steinig und durchwurzelt, der unmittelbar hinter dem Ausschank an die Felswand führt. Zuerst mäandert er auf dem Ufer der Kirnitzsch, schraubt sich aber zunehmend in die Höhe. Zuletzt liegt er hoch oberhalb des Flusses, vielleicht zehn Meter über einer steilen Felswand, auf der sich zwischen Totholz blühende Pflanzen und Bäume in die Ritzen im Stein krallen, oft so eng, dass ein Gewirr von Zweigen meine Sicht blockiert, dann wieder völlig frei, sodass ich mir wie auf einem Hochseil vorkomme, nur die Felswand im Rücken, um mich herum nur Sträucher und Wurzeln, an denen ich mich festhalten kann, wenn der Pfad zu schmal wird. Jetzt zu stolpern, kommt es mir in den Sinn, und schon konzentriere ich mich besser auf meine Umgebung. Auch plötzliche Unsicherheit oder Ängstlichkeit verändern Atmosphäre und Charakter des Wegs. Freundliche Gefühle helfen, ihn zu meistern.
Es sind atemberaubende Blicke hinab auf die Kirnitzsch und durch die Klamm, nichts, was eine Kahnfahrt unten in der Enge ersetzten kann. Ein einzelner Kahn hält mit mir Schritt, wenn ich das will, der tief unten langsam durch das Wasser gleitet. Die Stimme des Guides klingt gedämpft zu mir herauf. Was er sagt, verstehe ich nicht, doch seine Fahrgäste drehen ihre Köpfe hin und her, bis auf wenige, die mich oben auf der Felskante entdeckt haben und zu mir hinaufblicken. Ich stelle mir vor, es tut ihnen leid, gefangen im Kahn zu sitzen. Versöhnlich muss ich über meine Überheblichkeit lächeln. Es sind erregende Augenblicke, hoch über dem Fluss auf einem schmalen Saum zu stehen. Auf der einen Seite einen Abgrund, den keine Barriere begrenzt, auf der anderen die senkrecht aufragende Felswand mit bizarren Steinskulpturen, in denen Gesichter lauern. Der Flößersteig hat sich in einen Saumpfad verwandelt, kaum zwei Füße breit, der meine Schwindelfreiheit prüft. Manche Stellen sind so schmal, dass mir mulmig wird angesichts der offenen Tiefe, nur den Himmel über mir, der keinen Halt gewährt. Ärgerlich spüre ich meine Unsicherheit, und dränge mich an den schmalsten Passagen schutzsuchend zur Felswand hin. Es ist berauschend, hoch über der Klamm zu stehen, die unbewegliche Wasserfläche ausgebreitet unter mir zu sehen, eingeschlossen von einem imposanten Felspanorama, grauer Stein, grün bemoost, mit den gelben Flecken der Schwefelflechte gesprenkelt. Ich glaube, jeder der Touristen unten im Boot würde diesen Blick zu gerne mit mir teilen.
Die Kirnitzschklamm endet an der Oberen Schleuse, über die der Fluss ein steinernes Wehr hinab erlöst ins Freie fließt. Die Obere Schleuse ist eine historische Stauanlage der Holzflößerei, die seit dem 16. Jahrhundert betrieben wird. Sie staut das Wasser auf über siebenhundert Meter. Eine ältere schlysse in der Kirnitz in der Nähe des Grenzübergangs bei den Rabensteinen gab es bereits 1586. Die Obere Schleuse wird erst 1667 erwähnt, eine hölzerne Stauanlage, durch die mit mehreren Flutwellen die Baumstämme talwärts geflößt wurden. Jenseits eines steinernen Wehrs, das erst 1816 gebaut wurde, zu einer Zeit, als die ersten Touristen Klamm und Schleuse schon besuchten, rauscht und plätschert die Kirntizsch befreit über Gerölle, spielt mit Pflanzen, die wie aufgelöste Haare in der Strömung tanzen. Als lustiger Schwall windet sie sich talwärts. Der Klang des fließenden Wassers, das bis in die Höhe zu mir singt. Ich steige nicht hinunter an die Schleuse, wo ein Guide gerade seine Passagiere auslädt. Nun müssen sie zu Fuß weitergehen, doch man hat es ihnen leicht gemacht. Leer rudert der Guide den Kahn zur Rindenhütte zurück, um die nächsten Fahrgäste abzuholen. Der Flößersteig führt noch in Weile weiter, über die Schleuse hinaus, zuerst noch hoch über der Kirnitzsch. Schließlich verlässt er den Fluss, wird zu einem verwurzelten Waldpfad, der vor einer langen, gut ausgebauten Treppe hinauf zum Hermannseck endet. Ich wusste es nicht, traf auch keinen, der es mir sagen konnte, fand es aber naheliegend, den Namen des Felsturms mit dem Dorfgründer, dem Lokator Hermann, zu verbinden, der einst das Erbgericht, zusammen mit dem Brau- und Schankrecht, als Lehen hatte und den ersten Siedlern ihre Hufen an der Česká silnice, der Böhmerstraße zuwies, die sich im Hollweg fortsetzte und heute von der Buchenparkhalle zum Erbgericht führt. Doch ich irrte mich, wie ich später hörte, denn der Namengeber war der Oberförster Hermann Schlegel, auf dessen Initiative nicht nur die Eröffnung der Kahnfahrt, sondern auch der Aussichtsturm und einige andere touristischen Attraktionen der Region zurückgehen (1866).
Doch die Treppe ist nicht der einzige Weg auf den Felsturm. Meine Karte nennt den Weg über die Treppe bequem, verweist aber auf eine zweite Möglichkeit aufs Hermannseck zu steigen. Eng steht es klein gedruckt in Klammern neben einem roten Strich, dem Weg. Der Aufstieg aufs Hermannseck stellt mich vor eine Wahl: den bequemen Weg über breite Stufen hinaufzunehmen, zusammen mit den Passagieren aus dem Kahn, oder durch einen engen Schacht zu klettern, einen künstlich angelegten Steig, der schon auf den ersten Blick ein spannender Weg zu sein scheint, den ich nicht alle Tage gehen werde.
Die mit dem Kahn gekommen sind, entscheiden sich alle für die Treppe, die mich an einen Metroausgang aus der Unterwelt erinnert. Ich kann nicht sagen, wie ich mich entschieden hätte, wäre ich allein an dieser Treppe angekommen. Unbewusst wird mir die Entscheidung abgenommen, und ich gehe weiter, dem engen Aufstieg entgegen, der mich dann doch überrascht. Zwischen zwei Felswänden, kaum schulterbreit voneinander entfernt, führen Metallgitterstufen steil nach oben, nicht größer als ein Frühstücksbrett. Einen Handlauf, oder Griffe, sich zu sichern, gibt es keine, dazu ist der Schacht viel zu schmal. Es müssen über hundert Stufen sein. Gezählt habe ich sie nicht, denn ich habe alle Mühe in dem engen Schacht nicht stecken zu bleiben. An mehr als einer Stelle komme ich nur weiter, wenn ich meine Schultern seitlich drehe, und mich durch die Enge zwänge, während meine Jacke über den Stein schleift. Ich bin froh, endlich oben anzukommen. Ein Blick zurück, hinab in den Schlund aus Stein und Metall, um nichts auf der Welt würde freihändig hinabsteigen. Ganz oben auf dem Felsen die Schlegelhütte, den Elementen ausgesetzt. Die Intimität der Bank im Innern der kleinen Hütte nutzt ein Paar sich ausgiebig zu küssen. Der Blick hinab in die Klamm, die Aussicht von hier oben, sehr bescheiden. Viel zu sehen, was den Aufstieg lohnt, gibt es nicht. Das Besondere am Hermannseck bleibt der Aufstieg durch den Schacht.
Ich bleibe nicht, sondern steige hoch auf den Schleusenhornweg, über dem ein paar Sonnenstrahlen eine romantische Stimmung zaubern. Über den Hohweg bis zum Wettinplatz, und weiter auf dem Hollweg, auf breiten Forstwegen, mache ich mich auf zum Königsplatz. Erst zwischen Hinteren und Vorderem Schweineloch finde ich auf einen neuen schmalen Pfad. Zuerst wandere ich durch das noch nasse Gras, dann über Steine und Wurzeln und vermodernde Stufen immer steiler an einer Bergflanke hinauf. Serpentinen, die sich ein weiteres Mal, und zunehmend zwischen Abgrund und Felswand, aufwärts schlängeln. Durch die Felswand führt ein Tunnel, ein waagerechter Schacht, durch eine Öffnung im Stein von oben beleuchtet. An seinem Ende weitere Stufen, die weiter aufwärtsführen. Ein letzter steiler Anstieg durch einen Wald, der einem Trümmerfeld gleicht. Vom Borkenkäfer getötete Fichten liegen wie ein gigantisches Mikado auf den Hängen. Der Königsplatz, ein steinerner Hochsitz, gilt neben dem Weifbergturm als der beste Aussichtspunkt im Hinterhermdorfer Gebiet. König Friedrich August II. von Sachsen soll die Aussicht von hier oben genossen haben, weshalb man den Ort Königsplatz genannt hat.
Eine Bank, wie ein Hochsitz auf dem abgeflachten Stein, zu der eine Treppe führt, lädt zur Rast. Erschöpft und nass geschwitzt, finde ich sie besetzt. Doch an der Basis des Steins, unter einen Felsdach, hat eine zweite Bank, die nicht sofort zu sehen ist, Mitleid mit mir. An der niedrigen Decke stoße ich mir mehr als einmal den Kopf. Doch der Ausblick hinüber in die Böhmische Schweiz, über deren Felsen dunkle Wolken drohen, ist spektakulär, trotzdem der Borkenkäfer sich alle Mühe gibt, ihn zu verderben. Doch mit dem spektakulären Aufstieg auf den Königsplatz kann er nicht mithalten.
Noch ein kurzer Abstecher zur Grünstellige, um einem anderen Ausblickspunkt eine Chance zu geben, und um ein zweites Mal einen Blick hinüber in die Böhmische Schweiz zu wagen, der meinen Erwartungen auch nicht standhält. Vielleicht bin ich von diesem Tag voller Eindrücke übersättig, vielleicht sind es der bedeckte Himmel und der latent drohende Regen, die am Ende meine Stimmung und die Atmosphäre der Landschaft dämpfen. Doch es ist ohnehin Zeit für den Abschied vom Königsplatz und zur Rückkehr. Königsplatzweg und Hohweg bringen mich auf schnellem Weg zurück zur Buchenparkhalle. In Hinterhermsdorf hat mich der Regen schließlich eingeholt. Verschwitzt und durchnässt bin ich am frühen Abend zurück in meiner feuchtklammen Wanderhütte.
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