Montag, 5. Dezember 2022

Reine Luft und Lebensnahrung


Ich weiß nicht, warum es mich immer wieder in den Wald zieht. Vielleicht weil ich deutsch bin? Es mag daran liegen, dass ich mit Grimms Kinder- und Hausmärchen aufgewachsen bin, gefolgt von Karl Mays Reiseerzählungen. Das war die Zeit, bevor ich erwachsen war, und eine eigene Meinung besaß.

In den gesammelten Märchen der Grimms spielt der Wald eine zentrale Rolle. Er ist ein Ort der Initiation, der Selbstfindung und des Erwachsenenwerdens. Es ist derselbe Wald, den Tacitus in der Germania beschreibt, ein locus terribili und ein Ort der Erlösung: Germanien, ein von dunklen Wäldern durchzogenes Land, wo Arminius die Römer schlug, die Kinder der offenen Landschaften und Städte. Wahrscheinlich liegt es an meiner deutschen Identität. Dass eine vom anderen zu trennen, fällt mir schwer, und es gibt auch keinen Grund mehr dazu. Dass ich Deutscher bin, kann ich nach Jahrzehnten, in denen ich in vielen Kulturen in Europa und Asien unterwegs war, ohne Kommentar oder Rechtfertigung sagen. Mit Populismus und rechtsnationaler Ideologie hat das nichts zu tun. Doch die Worte und Inhalte sind sorgfältig zu wägen, weil wieder Rattenfänger durch die Lande ziehen. Richard Symth warnt 2018 in einem Artikel des New Humanist davor, die Rechtschaffenheit des Nature Writing unhinterfragt hinzunehmen. Jenseits der grünen Debatte findet er vermehrt reaktionäre Ideen zu den Themen Umweltschutz und Klimakrise. Faschisten sind, ebenso wie Konzerne, geschickt darin, Greenwashing anzuwenden. Und er fährt fort: Der Faschismus ist ein erfolgreicher Parasit. Es gibt wenige Bereiche des modernen Lebens, in die er keinen Weg findet. Doch das ist nicht neu. Schon 2012 beklagten Christian Thiele und Marlene Weiss in der Süddeutschen Zeitung, die Unterwanderung des Biolandbaus durch Rechtsradikale. Naturschutz, Heimatschutz und Blut-und-Boden-Ideologie, schreiben sie, gehörten für die Nationalsozialisten zusammen, die zentralen Themen ihres Reichstierschutz- und Reichsnaturschutzgesetzes von 1933-1935.
Etwas charakteristisch Deutsches kann ich in den kruden Vorstellungen rechtsnationaler Propaganda nicht erkennen. Im Schatten des Zweiten Weltkriegs in den 1950ern aufgewachsen, wurden die Gräuel des Nationalsozialismus in meiner Familie verdrängt und Deutschsein durch Katholischsein ersetzt. Auf jeden Fall konservativ, das war wichtig. Ich konnte fragen so viel ich wollte: Über die jüngste Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Ein nicht hinterfragbares Tabu lag wie ein undurchlässiger Schleier über dem Trauma, am Deutschsein gescheitert zu sein. In den späten 1960ern und den 1970ern warf ich alles über Bord, was irgendwie im Verdacht stand, deutsch zu sein, weil ich verstanden hatte, was die Erwachsenen meiner Kindheit so bemüht waren, auszulöschen. Jahrzehntelang hatte ich keine Heimat mehr und meine Identität war aus allen möglichen kulturellen Fragmenten zusammengebastelt. Mittlerweile weiß ich, dass ich die nationale Prägung meiner Kindheit und Jugend nicht losgeworden bin, und kann ohne Ressentiments deutsch sein.
Biografische Prozesse sind komplex und die Erinnerung konstruiert manchen persönlichen Mythos. Paul Scraton findet in seinen Harzwanderungen Worte, die diesen Zusammenhang nicht schöner beschreiben können: Der Wald ist ein Symbol. Ein bedeutungsvoller Ort. Ein Ort, an dem man sich verstecken und verirren kann. Die Bäume sind regungslos. Der deutsche Wald ist ein Idyll. Der deutsche Wald ist dunkel unter dem Blätterdach der Bäume. Der deutsche Wald ist uralt. Der deutsche Wald ist ein Mythos. In der Prägnanz dieser Sätze tritt auch die emotionale Ambivalenz zutage, die wir dem Wald gegenüber empfinden, die Angst und das Vergnügen, die sich an diesem schaurig-schönen, numinosen Ort einstellen. Etwas hat sich geändert. Die Atmosphären des Waldes sind unwägbar. Eben noch schien die Sonne, die helle Flecken auf den Boden malte, im nächsten Augenblick ziehen Wolken auf, die Stille des Waldes wird zudringlich und das Licht wird trübe. Es ist unheimlich geworden, wo gerade noch euphorische Gefühle den Schritt des Wanderers leicht machten. Und selbst, wenn wir den Weg schon oft gegangen sind, beschleicht uns ein mulmiges Gefühl. Wir werden hypersensibel für unsere Umgebung und die Lieder und Erzählungen, die Bücher und Filme, die wir kennen, manche davon in unserer Kindheit oft genug nur flüsternd weitergegebene Geschichten, sind unlöschbar in unsere Gehirnwindungen eingeschrieben. Mit einem Mal sind sie viel zu deutlich präsent. Spätestens seit der Romantik, propagiert in Malerei, Poesie und Literatur, ist der Wald in Deutschland eine Sehnsuchtslandschaft, und neuerdings als Nationalpark oder Weltkulturerbe, obwohl es fast zu spät ist, zu schützende Natur. Dieter Borchmeyer vermutet in seinem Essay Into the Woods sogar ein Waldbewusstsein in Deutschland; die jüngsten Demonstrationen zur kompromisslosen Verteidigung des Hambacher Forstes sowie die Waldakademie und die Publikationen des den Wald anthropomorphisierenden Försters Peter Wohlleben in den letzten Jahren sind nur zwei Beispiele. Meine Liebe zum Wald habe ich mir mit meinen Füßen eingeschrieben, nicht nur zum deutschen, denn auch der tropische Berg- oder Regenwald ist eine faszinierende Landschaft, in der ich gerne gewandert bin. Der Wald bildet ein Grundthema deutscher Identität. Doch nicht nur die Deutsche Eiche, die sächsische Irminsul, sondern auch der baskische Baum vom Gernika oder der indonesische Waringin, bilden Symbole ethnischer Identität, denen ich mich verwandt fühle. Sie alle sind, dies nur nebenbei bemerkt, Symbole des Weltenbaums, der Axis mundi. Wie gesagt: Das war nicht immer so. In früheren Jahrhunderten war der Wald ein schrecklicher, unheimlicher Ort, ein Angstort, und wurde gemieden. Was im Wald vermutet wurde, das erzählen die Märchen.

In der Sächsischen Schweiz, und darin liegt eine ihrer Besonderheiten, trifft der Wanderer auf vier verschiedene Wege. Da sind die breiten Forstwege, die auch die Waldarbeiter mit ihren Fahrzeugen nutzen. Von ihnen zweigen unbefestigte Waldwege ab, meist eher schmale Pfade, die unter Bäumen stetig aufwärtsführen. Irgendwann werden sie zu Steigen, schmalen, steilen Gebirgspfade, die, wie um die Anforderungen an den Wanderer noch ein letztes Mal zu erhöhen, auf steilen Stiegen enden. Stiegen sind schmale, steile Holztreppen in alten Gebäuden, auf den Speicherboden oder in den Keller. In der Sächsischen Schweiz handelt es sich bei Stiegen um enge Passagen auf den Gipfel, die auf Eisenleitern senkrechte Felswände bewältigen, die über Tritt- und Griffmulden hinaufgeklettert werden müssen. Die Heilige Stiege, die hinauf in die Affensteine führt, ist nur eine von vielen, auch wenn sie die erste Stiege ist, vor der ich ahnungslos und unerwartet stehe.
Am Ende des 18. Jahrhunderts verkündeten die Philosophen und Künstler der Deutschen Romantik einen Paradigmenwechsel. Zurück zur Natur! forderte der französische Pädagoge und Philosoph Jean Jaques Rousseau, träumte vom edlen Wilden und konzipierte ein neues Verhältnis zur Natur als Gegenstand ästhetischen Genusses und salutogenetischem Wohlergehen. Zur gleichen Zeit propagierte der Arzt Wilhelm Hufeland in seinem Buch Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern eine grundlegende Regel, keinen Tag vergehen zu lassen, ohne die freie, reine Luft genossen zu haben. Zu Fuß gehen, Bewegung in der frischen Luft, verkündete er seinen neuerdings für das Wandern offenen Zeitgenossen, sei die reinste Lebensnahrung. Während vorausgegangene Generationen die Natur, insbesondere den Wald als Ort unwägbarer Gefahren, mit Furcht und Argwohn betrachtet haben, machten sich Adel und gebildete Bürger das Leitmotiv zu eigen, die Natur zu Fuß zu entdecken. Eine neue Mode wurde geboren. Die Felslabyrinthe des Elbsandsteingebirges waren von Beginn an mit dabei. Es ist ein seltsames kulturelles Phänomen, dass sich Vergangenes, zurückgelassen Geglaubtes wieder in das Leben der Zeitgenossen einmischt. Im Zeitalter der Hypermobilität ist Zufußgehen aufs Neue subversiv geworden.
Südlich von Dresden und Pirna findet der Wanderer alles, was Rousseau einst unter einer schönen Gegend verstanden hat: Niemals eine Landschaft der Ebene, mag sie auch noch so schön sein. Ich verlange Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, raue auf- und abführende Pfade und fürchterliche Abgründe neben mir. Ich glaube nicht, dass Jean Jaques Rousseau durch die Felsen und Gründe des Elbsandsteingebirges gewandert ist, und wenn, dann hätte er dort seine Landschaft gefunden, eine Landschaft, die ihm beides gegeben hätte: die numinosen Gefühle der Euphorie und einer Angst, die mit Lust verschmilzt. Im Elbsandsteingebirge gibt es genügend dieser Miniaturlandschaften, die dies fördern. Man muss nicht einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

Es ist bereits spät, als ich morgens aufbreche. Meine Schuhe sind über Nacht nicht getrocknet. Sie sind auf meiner Regenwanderung gestern zu nass geworden. Als ich nach draußen komme, ist die Luft satt vor Feuchtigkeit. Nichts trocknet schnell. Matschig, lehmigbraun schlängelt sich der schmale Fußweg vor der Tür auf grasnassem Hang. Es riecht erdig, etwas modrig. Viel zu schnell benetzt mir die feuchte Luft Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich geschickt im grauen Nichts. Ich bin zufrieden, im Wanderquartier abgestiegen zu sein, und nicht im Zelt zu logieren. Gestern Abend saßen wir noch lange zusammen, meine beiden Sächsische-Schweiz-Profis und ich, ein Greenhorn im Elbsandstein. Unser Gespräch drehte sich um Wanderungen auf Lieblingswegen zu Lieblingsorten. Schwärmerische Worte malten lockende Bilder in die Gedanken. Irgendwann rauchte mein Kopf von den vielen Tipps und Must-Do-Wegen, von denen mir die beiden erzählten, die der Sächsischen Schweiz verfallen waren und seit Jahren wiederkommen.
Irgendwie müssen ihre vielen Empfehlungen und meine geplante Wanderroute in der Nacht durcheinandergeraten sein. Als ich mittags in Schmilka ankomme, biege ich spontan, und ohne weiter nachzudenken, noch ganz im Sog der nächtlichen Schilderungen, auf den Wurzelweg ab, der mir von gestern Abend noch im Kopf spukt und fesselnde Assoziationen geweckt hat. Steil, zuerst asphaltiert, führt er bergauf. Am ersten Wegweiser bin ich bereits nass geschwitzt, und es wird kühler. Wind chill, heißt es, wenn der Körper erhitzt ist, die Haut kalt wird, und man glaubt zu frieren, ohne es wirklich zu tun. Was gestern auf der Karte einfach aussah, gestaltet sich unterwegs im Wald kompliziert. Ich nehme den ersten Weg zum Großen Winterberg, wohin ich zu gehen geplant habe. Allerdings auf eigenen Wegen. Die Zwieselhütte, wo ich auf den Falkoniergrund einbiegen will, um zur Rotkehlchenstiege zu wandern, kann ich nicht finden. Wahrscheinlich bin ich lange schon vorbei, auf einen der vielen Wege und Pfade, die es gibt, falsch abgebogen. Stattdessen wandere ich nach vielem Hin und Zurück auf dem Heringsgrund, und bin zufrieden mit dem mir zugefallenen Weg. Was für Namen? Wer hat sie, und aus welchem Grund, den Wegen verliehen? Den Felsen, Felsriffen, Felswänden, Kuppen und Steinen. Die Sächsische Schweiz ist ein Panoptikum von Steinen mit fantastischen Namen. Es müssen mehrere Hundert, wenn nicht Tausende sein. Ich bin noch nie in einer Landschaft gewandert, in der jeder kleinste Teil so fantasiereich benannt wurde. Und die Namen, reden sie von Ereignissen und bewahren sie Erzählungen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie grundlos so heißen, wie sie heißen. Jede Landschaft besitzt Erzählungen über sich, und beides ist untrennbar miteinander verbunden. Die Namen erinnern an die Ereignisse. Erst wenn die Namen verloren gehen, verschwinden die Erzählungen mit ihnen. Eine Landschaft verändert ihre Atmosphären und wird dann anders wahrgenommen.
Wir benutzen zwei Strategien, um uns in unserer Umgebung zurechtzufinden: Die Routenstrategie memoriert die Umgebung und die Wege anhand markanter Punkte, deren Namen sie aus einer sonst ungeordneten Natur hervorheben. Die komplexere Überblicksstrategie wertet außerdem die Bewegungsrichtung und den Zusammenhang der Landmarken aus. Die Karte, die im ersten Fall entsteht, entspricht einer gezeichneten Landkarte. Gemeinsam mit dieser räumlich-zweidimensionalen Karte einsteht eine zweite, eine psychische Landkarte. Robert Macfarlane spricht von einer Geschichtenkarte, die gleichzeitig die äußere Landschaft sowie die psychische Reaktion auf Erlebnisse und Erfahrungen in ihr abbildet. Von einer auf Daten reduzierten Karte unterscheidet sich seine Geschichtenkarte, weil sie den Raum abhängig vom Sein erfasst. Die Namen der Landschaft und ihrer Marken integriert Ereignisse, die Erzählungen tradieren, und der Landschaft ihren Charakter geben. Geschichtenkarten bilden eine Melange von geografischen Besonderheiten, sozialen und historischen Ereignissen, Erinnerungen und Fantasien.
Ich weiß nicht, wie der Heringsgrund, den ich eher in Friesland als im Elbsandsteingebirge erwartet hätte, zu seinem Namen kam, ist der Hering doch ein Fisch der Nordsee. Doch er ist ein schöner Weg, auch wenn nichts Fischiges an ihm ist. Nach dem ergiebigen Regen der letzten Tage wandere ich durch weichen Sand, der entfernt an Strandspaziergänge erinnert, bei dem die Füße tief einsinken. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass das etwas mit diesem eigenartigen Namen zu tun hat. Aber wer weiß das schon? Lange Zeit verläuft der Heringsgrund eben, zwischen kniehohen Heidelbeeren, solitären Sträuchern und Bäumen, von einem Hauch von Herbst geschmückt. Zaghaft lassen sich die ersten Pilze sehen.
Noch bevor der Weg auf Treppenstufen wechselt, verengt der Grund sich immer mehr, und steigt allmählich auf die Bussardtürme zu. Sie begrenzen meinen Blick, je näher ich ihnen komme. Der Weg wird zum schmalen Pfad, das Tal mit Sand und Pflanzen bleibt zurück, während mich die felsige Welt zum zweiten Mal in ihre Arme schließen will. Nach dem gemütlichen Spaziergang durch den Heringsgrund, als die Bussardtürme, zuerst noch weit entfernt, nur langsam näher rückten, versetzt mich der Weg nun Schritt für Schritt in die Welt des Bergwanderns. Kaum merklich steigt das Gelände an. Der sandige Heringsgrund wechselt auf Stufen. Holzlatten, die eine breite Treppe bilden, mildern die Steigung, zuerst noch, bis der Weg zwischen tote Fichten führt. Weitere Opfer des Borkenkäfers, der in der Monokultur der Fichtenwälder wütet. Die in den Boden gegrabene Treppe steigt und steigt, immer malerischer, durch den Wald, und vorbei an urtümlichen Felsskulpturen, unaufhaltsam auf die Felswand zu. Zwischen den Bäumen und Felsen fühlt es sich plötzlich enger an. Das Licht hat sich gewandelt und die blassen Farben auf der Heide in ein intensives Moosgrün und Erdbraun getaucht. Im Wald herrscht eine dämmrige Stimmung, die andere Gefühle lockt und märchenhafte Fantasien weckt. Nur kurz, dann stehe ich schließlich an der Basis einer grau zerklüfteten Felswand. Die Bussardtürme ragen hoch über mir auf. Ein Zwillings-Felsturm, oben flach wie ein Tafelberg, dem eine Felsenburg gut zu Gesicht stehen würde. Drei hölzerne Stufen sind noch übrig, dann geht es steil hinauf. In die schmale Klamm zwängt sich eine lange, steile Stahltreppe mit einem eigentümlichen Namen zwischen die Felswände: die Heilige Stiege. Unwillkürlich frage ich mich, was an einer Stiege mit einer modernen Stahltreppe heilig ist, finde aber nur eine Antwort. Heilig muss die grandiose Landschaft sein, der ans Senkrechte lehnende Aufstieg in die Kluft, die mich wie eine steinere Hülle umgibt, der senkrecht himmelwärts strebende Felsturm, der eine andächtig demütige Stimmung weckt. Sieht so vielleicht der Weg in den Himmel aus, ins Paradies? Ich würde mich nicht wundern, wenn dieser Name ehemaliger Frömmigkeit entsprungen ist.
Die lange Stiege kostet Kraft, so steil kleben ihre Stufen am Berg. Stufe um Stufe klettere ich die lange Treppenflucht aus Metall nach oben, unterbrochen von kleinsten Absätzen oder Felsplateaus mit atemberaubenden Ausblicken, weit hinab in den Schmilkaer Kessel. Weiter oben nimmt die Dramatik der Felsenlabyrinthe weiter zu: die Wenzelswand, die Fluchtwand, das Schwarze Horn. So viele Felstürme, deren Gestalt die Erosion geformt und auf ihrer Oberfläche skurrile Bildnisse hinterlassen hat. So viele Felswände, die zum Besteigen auffordern, so viele Felsen, die an archaische Riten denken lassen, wie der schwarze, quadratische Altarstein zwischen zwei hoch aufragenden Felsnadeln. Ein Opferplatz, wie der, auf dem Abraham statt seines Sohnes einen Widder opferte. Megalithen aus dem Neolithikum, wie sie die Natur dem Menschen bot. Unversehens bin ich in eine andere Welt geraten. Körperlich erschöpft, so müsste ich mich fühlen, doch meine Begeisterung setzt sich über alles Physische hinweg. Mein Gehirn pumpt mir Endorphine in mein Blut. Oben auf dem Gipfel, hoch über allen Bäumen, bin ich allein. Die Stille ist absolut. Tief unten in der Schlucht schlängelt sich der Heringsgrund über die Heide. Die physische Anstrengung des Gehens, Wanderns und Kletterns zahlt sie in psychischer Münze reich zurück. Wer die Anstrengung und Missempfindungen des Körpers scheut, der verpasst die Essenz des Wandenrs.

Der Weg zurück führt über den felsigen Zurückesteig. Wie passend! Allein dieses Namens wegen wähle ich ihn für meinen Abstieg in den Schmilkaer Kessel. Ich bin oben auf der Tafel der Bussardtürme, wo sich flache und rundgeschliffene Felsen abwechseln, und der Malerweg kreuzt. Zwischen ihnen klemmt gelegentlich ein einsamer Strauch auf kargem Grund. Von unten mühen sich zwei schwer bepackte Schweizer durch die in die Kluft gestreuten Felsblöcke, die die steile Passage fast blockieren, und die nur wenig Platz lassen, aufzusteigen. Aufwärts, über einen anderen Berg, vorbei am Kelchstein, der aussieht, als ob er kaum aufrecht stehen kann, so klein ist die Unterlage, auf der er seine Masse balancieren muss, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mein Weg ist leichter, obwohl nicht weniger steil und von Felsgestein behindert. Er steigt hinunter in den Wilden Grund. Andere Stufen führen steil hinauf zur Affensteinpromenade, die heute nicht mein Ziel ist. Steile Treppen, rutschig nasser Sand und kreuz und quer verstreute Steine, das ist der Wilde Grund. Dazwischen Wurzeln, zu bizarren Mustern geflochten. Vorbei an Wackerzacke, Promenadenturm, und wie sie sonst noch heißen. Ein zweites Mal verpasse ich die Rotkehlchenstiege, und bin stattdessen plötzlich in der Breiten Kluft, die mich viel zu plötzlich auf den Elbleitenweg ausspuckt, ein Forstweg, der von Ost nach West die Elbe begleitet, zurück auf den Wurzelweg. Doch immer noch bleibt die Felsszenerie beeindruckend. Sie türmt sich nur wenige Meter neben mit am Weg auf, wo eine kniehohe Barriere und kleine, schwarze Dreiecke auf Bergpfade für Kletterer hinweisen. Gewaltige, schwer zu besteigende Kletterfelsen. Der Rauschenstein, die Rauschentürme und der majestätische Teufelsturm grenzen unmittelbar den Elbleitenweg, der von der Schrammsteinkette herabkommt. Doch ich bin längst zurück in der alltäglichen Welt, die nichts von der Romantik weiß, die den Wanderer zwischen den Felslabyrinthen erwartet. Auf dem breiten, kaum noch steigenden und fallenden Forstweg wandere ich gemächlich hinab nach Schmilka. Ein Nordic Walking-Parcours, der nichts zu wünschen übriglässt, und mir von selbst sein schnelles Tempo aufdrängt. Schmilka ist nur einen Augenblick entfernt. Mit Schritt und Stock weit ausholend, fliege ich hinunter an die Elbe.


Weiterlesen: Bergpfad durch die Affensteine


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