Freitag, 9. September 2022

Auftakt


Die Sächsische Schweiz ist das im südöstlichen Sachsen liegende Gebiet des Elbsandsteingebirges, dass sich auf tschechischer Seite als Böhmische Schweiz fortsetzt, eine einst zusammenhängende Sandsteintafel der Kreidezeit. Im Tertiär stieg basaltische Lava aus dem Untergrund auf, drang an vielen Stellen durch den Sandstein und bildete Vulkankegel. Die Erosion übernahm in Jahrmillionen den Rest, zerteilte den weichen Sandstein in Klüfte, Riffe und Blöcke, formte den Basalt zu Bergkegeln, und modulierte eine einzigartige Landschaft, die mannigfaltige Möglichkeiten bietet zu wandern: allein oder in Gemeinschaft. Bequeme, malerische Waldwege für Jedermann, an der Basis der schroffen, zerklüfteten Felsmassive entlang, in deren Oberfläche der aufmerksame Wanderer manches Gesicht hineinspintisieren kann, oft entlang kleiner Gewässer, die alle zur Elbe streben, führen den Wanderer in Schleifen um die Schrammsteine, die Affensteine oder den Großen Zschand, die großen Felslabyrinthe der Hinteren Sächsischen Schweiz.
Die Gesellschaft von zahlreichen anderen Wanderern findet man auf den Hauptwanderwegen, wie dem Schrammsteinweg, wo die Vielen unterwegs sind, auf Wegen, die leicht zu gehen sind, und die in den Prospekten der Tourismusbranche als Must-Do in den Fokus gerückt werden. Auf solchen Wegen begegnet man ständig anderen Wanderern, manche mit zügigem Schritt, als ob sie in Eile sind oder etwas Unangenehmes schnell hinter sich bringen wollen. Wieder andere wandern in Gruppen, sind so mit sich selbst beschäftigt, dass ihre laute Unterhaltung ihnen in der Stille des Waldes hunderte Meter vorauseilt. Sie wandern aneinander vorbei, in ihrer eigenen Blase gefangen, wie Teilnehmer an einer Führung, die durch die touristischen Hot Spots irgendwo auf der Welt geschleust werden. Was sehen sie, wenn sie auf das Wunderbare, das Besondere, das sie umgibt, schauen? Verstehen sie mehr, als das, was sie bereits wissen oder gehört haben? Wohin richten sie ihre Aufmerksamkeit, wenn sie schnell weiter zum nächsten Spot eilen, wo sie erneut an der Oberfläche entlangschrammen.
Aufregende Wege, Kammwanderwege mit steilen Auf- und Abstiegen, hinab in tiefe Schluchten, dann wieder hinauf zu schönen Fernsichten über die Vielgestaltigkeit der Sandsteinfelsen, verbinden Wandern und Klettern auf anspruchsvolle Weise. Auf den Pfaden, Steigen und Stiegen, die von den Hauptwegen abbiegen, die durch schwierigeres Gelände führen, und körperliche Anstrengung erfordern, ist es einsam und still. Der Etymologie des Substantivs Weg zu folgen, ist lehrreich, denn sie bringt eine interessante Bedeutung ans Licht. Die Grundbedeutung des Protogermanischen liznojan, einer Spur folgen oder eine Spur finden, führt weiter ins Protoindoeuropäische und zu dem Präfix leis- mit der Bedeutung Spur. In dieses semantische Feld gehört auch das moderne Verb lernen sowie das englische to learn, lernen oder sich Wissen aneignen, Nachfolger des altenglischen Verbs leornian. Robert Macfarlane, dem ich diese Zusammenhänge verdanke, folgert in seinem Buch Alte Wege konsequent: Die Beziehung zwischen Gehen in Denken steckt auch tief in der Sprachgeschichte und findet in der wundervollsten Etymologie, die ich kenne, brillanten Ausdruck. Nur gelegentlich begegnet man in den Höhen der Sächsischen Schweiz anderen Wanderern, meist sind sie allein oder höchstens zu zweit, und immer bleibt Zeit für einen kurzen Austausch. Das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, setzt für einen Augenblick aus. Das Elbsandsteingebirge südöstlich von Dresden ist ein El Dorado für Wanderer, das für ein ganzes Leben reicht.
Meistens beginnt es mit einem breiten und ebenen Forstweg, asphaltiert oder als eine Rollsplittpiste. Gelegentlich beginnt eine Wanderung in einem Dorf, beispielsweise in Ostrau oder in Schmilka, je nachdem, welche Region der Wanderer bevorzugt. Forstwege, auf denen auch Waldarbeiter motorisiert unterwegs sind, umrunden als Hauptwanderweg, die bequem zu wandern sind, Felsregionen mit mysteriösen Namen. Sie provozieren zu Fragen: Wer hat sie ihnen verliehen? Welche Geschichte tradieren sie? Ein Land ist nicht nur eine Landschaft, sondern auch seine Geschichte. Und diese Geschichte ist nicht nur eine Erzählung, die Menschen erdacht haben, sondern eng mit dem Land verbunden. Die Namen, die die Felsen und Steine der Sächsischen Schweiz bewahren, sind wichtig, denn gehen sie verloren, verschwinden mit ihnen auch die Geschichten, die sich um sie ranken. Ohne Namen rufen sie keine Erinnerung mehr an die Vergangenheit wach. Auch eine Landschaft kann ihre Identität verlieren.

Wer mehr will, verlässt den Forstweg, biegt auf einen der zahlreichen schmalen Waldwege ab. Auf diesen geht es dann schnell bergwärts, anfangs leichten Schritts auf Grasnarben, durch einen Laubmischwald aus Buchen, Eichen und Ahorn, unterbrochen von Fichtenbeständen, die der Borkenkäfer fast völlig zerstört hat. Kahle Stämme, der Boden mit trockenen Ästen und Zweigen übersät. Totholz im Reich des Borkenkäfers. Plötzlich schlägt die liebliche Stimmung im Waldesgrün in eine gespenstische Atmosphäre um. Der Weg wird zum Pfad, dann zum Saumpfad, ist wurzelzerfurcht und steinig, sodass sich jeder Schritt umsichtig festen Halt suchen muss. Immer mehr verändert der Pfad seine Gestalt. Schließlich mäandert er um große Felsblöcke oder in einem engen Durchschlupf mitten hindurch, um Findlinge und Steinbrocken herum, in die Tritt- und Griffmulden den Aufstieg erleichtern. Zwischen den Felsen wird es steil und eng, dass Trittsicherheit und gutes Schuhwerk von Nöten sind. In schmalen Serpentinen, in die immer nur ein Fuß Platz findet, geht es immer höher aufwärts, rechts stützt die Bergflanke, links gähnt der Abgrund. Ich bin mittlerweile viele Wege gewandert, doch die Wege durch die Felslabyrinthe im Elbsandsteingebirge haben alle früher gegangenen übertroffen.

Wandern in Elbsandsteingebirge, in der durch bizarre Felsformen geprägten Landschaft, bedeutet ein ständiges Hinauf und Hinunter. Sächsische Schweiz heißt die Gebirgslandschaft im südöstlichen Winkel von Sachsen nicht von ungefähr. Es wird immer wieder behauptet, dass dieser Name mit zwei Schweizern, dem Kupferstecher Adrian Zingg und dem Porträtmaler Anton Graff entstand, die Ende des 18. Jahrhunderts an die Dresdener Kunstakademie berufen wurden. Sie sollen die ersten gewesen sein, die zu Fuß in der Gegend von Königstein auf Motivsuche durch das Elbsandsteingebirge, vor den Toren von Dresden, gewandert sind. Die Landschaft, die sie dort vorfanden, erinnerte sie an den Schweizer Jura, wo sie herkamen. Ob diese Namengebung nun eine Legende ist oder nicht, die Landschaft, die vorher Meißener Hochland hieß, bekam diesen neuen Namen, der nicht in der Geografie wurzelt, sondern schon damals ein gutes Geschäftsmodell war. In ihrem Gefolge wanderten ihre Schüler im Elbsandsteingebirge, kamen nach und nach die ersten Reisenden, zu Fuß oder in der Kutsche, sowie die Künstler der Romantik in die Sächsische Schweiz, die sich in ihrer Kunst von den fantastischen Landschaften des Elbsandsteingebirges inspirieren ließen. Unter ihnen die Landschaftsmaler Caspar David Friedrich, der tagelang im Uttewalder Grund verweilte, und schließlich das Das Felsentor im Uttewalder Grund zeichnete. Landschaften der Sächsischen Schweiz interpretieren auch seine Bilder Ausblick ins Elbtal sowie Wanderer über dem Nebelmeer. Romantische Landschaften gibt es auch von Adrian Ludwig Richter (Überfahrt über die Elbe am Schreckenstein bei Aussig) oder Johann Alexander Thiele (Landschaft mit Wasserfall) und ebenfalls der Universalgelehrte und Maler Carl Gustav Carus, dessen Philosophie den Kosmos als vom Lebendigen geprägte Gestalt auffasste. Besonders Carus widmete sich in seinen Gemälden der hybriden Zone zwischen psychischem Erleben und schillernden Atmosphären der Landschaft, die den Menschen entindividualisierte und mit der Landschaft verschmolz (Heimkehr der Mönche ins Kloster). Die psychische Betroffenheit durch die schillernden, zwischen Geborgenheit und Ausgeliefertsein schwankenden Atmosphären der Landschaftsformen der Sächsischen Schweiz, die besonders den Gemälden von Carus anhaften, erschließt sich jedem, der sich auf diese Melange von Vertrautem und Unheimlichem einlassen kann. Auch der Komponist Carl Maria von Weber war von diesen Atmoshären hingerissen. Er siedelte die Wolfsschluchtszene seiner Oper Der Freischütz in der Nähe des Kurorts Rathen an und Richard Wagner, dessen Denkmal im Liebethaler Grund steht, fand in dieser Landschaft zu seiner romantischen Oper Lohengrin.
Im Verlauf ihrer Wanderungen entstand der inzwischen populäre Malerweg, der auch Fremdenweg heißt, der erste Hauptwanderweg durch die Sächsische Schweiz. Wie dem auch sei: Den ersten Reiseführer schrieb der Lohmener Pfarrer Carl Heinrich Nicolai schon Ende des 18. Jahrhunderts als einen Wegweiser durch die eben erst als Reiseziel entdeckte Landschaft. So richtig populär wurde der Name Sächsische Schweiz jedoch erst durch eine Publikation des lutherischen Theologen Wilhelm Leberecht Götzinger, der Anfang des 19. Jahrhunderts über die Sächsische Schweiz schrieb. Solche Gemälde und Schriften machten die Sächsische Schweiz nun auch zu einem Sehnsuchtsort für Literaten wie Theodor Fontane (Irrungen, Wirrungen) oder Heinrich Laube, die die Landschaft zu Schauplätzen ihrer Erzählungen machten.


Weiterlesen: Felsenwelt Schrammsteine


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